Auf den ersten Blick fällt die Bilanz der Russland-Sanktionen ernüchternd aus. Wirtschaftlich ist das Regime Putin bislang nicht in einer Weise getroffen, dass ein Einlenken im Krieg gegen die Ukraine auch nur in Ansätzen erkennbar wird. Waren die Sanktionen ein Fehler? Eine Analyse von Dr. Michael Heise.

Vor 6 ½ Monaten haben die EU, die USA sowie zahlreiche weitere Industrieländer damit begonnen Sanktionen gegenüber Russland zu verhängen. Es steht bereits fest, dass die Maßnahmen einen Teil der Hoffnungen, die in sie gesetzt wurden, nicht erreicht haben. Die Sanktionen werden der russischen Wirtschaft zwar langfristig erheblichen Schaden zufügen, kurzfristig aber haben sie Russland kaum geschwächt, das auf Rekordeinnahmen im Energiegeschäft und einen gewaltigen Außenhandelsüberschuss zusteuert.

Sanktionen wirken nur langfristig

Allerdings waren sich die Ökonomen auch schon im Vorfeld weitgehend einig, dass Sanktionen ihre Wirkungen nur über viele Jahre entfalten können. Russlands Wirtschaft wird über einen längeren Zeithorizont dadurch geschwächt werden, dass sich westliche Unternehmen weitgehend aus dem Land zurückgezogen haben, dass Technologieimporte aus den westlichen Ländern untersagt sind und russische Finanzinstitute einschließlich der Zentralbank vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten wurden. Die Folge: Russische Firmen haben vielfach den Zugang zu den entwickelten Märkten verloren.

Über lange Sicht wird Russland auch erhebliche Marktanteile im Energiebereich verlieren, weil sich westliche Abnehmer Schritt für Schritt von Importen aus Russland unabhängig machen. Die Hoffnung, dass sich der Verlust etablierter Absatzmärkte ohne weiteres durch intensivere Handelsbeziehungen zu China, Indien sowie zu anderen Schwellenländern kompensieren ließe, wird wohl enttäuscht werden. Diese Länder werden Zugeständnisse fordern, und sie haben bei weitem nicht die Zahlungskraft der OECD-Länder.

Kurzfristig erzielt Russland Rekordüberschüsse

Kurzfristig sieht das Bild allerdings ganz anders aus: Die Sanktionen haben weder die Finanzierung des Krieges erheblich erschwert noch die politischen Entscheidungen erkennbar verändert. Die Exporterlöse Russlands sind durch die Sanktionen, die den Energiebereich teilweise ausgeklammert haben, keineswegs gesunken, sondern sie bewegen sich im Jahr 2022 auf Rekordwerte zu.

Russland exportiert zwar mengenmäßig weniger Öl, Kohle und Gas in die westliche Welt, aber der Preisanstieg für diese Energieträger überkompensiert diesen Rückgang bei weitem. Und was an Mengen im Westen nicht abgesetzt werden kann, fließt nach Asien und in andere Schwellenländer, die Russland nahestehen. So sind die Exporterlöse nach Aussagen der Zentralbank stärker gestiegen als erwartet.

Zusammen mit rückläufigen Importen wird dies den Leistungsbilanzüberschuss Russlands in diesem Jahr wohl auf einen Rekordwert von bis zu 300 Milliarden Dollar ansteigen lassen. Russlands Exportüberschuss wäre damit größer als der chinesische und doppelt so hoch wie der Überschuss des früheren Exportweltmeisters Deutschland. Auch wenn die erheblich steigenden Devisenreserven Russlands aufgrund der Finanzsanktionen nicht mehr frei verwendet werden können, kann von Finanzierungsproblemen des Landes nicht die Rede sein.

Mögliche Folgen von Preisobergrenzen für russisches Gas und Öl

Derzeit wird auf internationaler Ebene über Preisobergrenzen für russisches Öl und russisches Gas gesprochen, um die Einnahmen Russlands zu deckeln. Tatsächlich könnten solche Instrumente einen Lieferstopp Russlands zur Folge haben, denn Putin hat deutlich gemacht, dass Russland sich nicht an die Verträge halten wird, wenn solche Sanktionen ergriffen werden und kein Öl und Gas an Firmen liefert, die eine Preisdeckel verlangen.

Russland würde bei einem Lieferstopp erhebliche Einnahmeausfälle zu verkraften haben und seine eigenen Finanzen erheblich schädigen. Noch größer wäre der Schock jedoch für viele Länder Europas, die trotz der Einsparaktivitäten und neuer Lieferanten noch immer von russischer Energie abhängigen und aufgrund der Energiepreiserhöhungen schon am Rande einer Rezession stehen.

Ein Lieferstopp würde die Energiekrise erheblich verstärken

Von besonderer Bedeutung sind die Abhängigkeiten vor allem auf dem Gasmarkt. Die EU hat zwar die Importe an russischem Gas in den Sommermonaten auf einen Anteil von rund 10 % zurückgeführt. Aber in den Wintermonaten wird die Nachfrage nach Gas insgesamt massiv ansteigen und es sind dann erhebliche Einsparungen nötig, wenn die Lieferungen aus Russland nicht erhöht werden. Zu den zahlreichen Ländern, die noch in sehr hohem Maße von der russischen Gasversorgung abhängig sind, zählen osteuropäische Volkswirtschaften wie Bulgarien, Ungarn und die Tschechische Republik, aber auch Finnland und Österreich. Nach Deutschland ist der Zufluss russischen Gases durch die Schließung von Nordstream 1 bereits praktisch auf null zurückgefahren worden.

Ein Lieferstopp für alle EU-Länder würde die Energiekrise durch Preiserhöhungen für Gas und Strom erheblich verstärken. Die Inflationsraten würden weiter steigen, die Zahl der Insolvenzen vor allem bei energieabhängigen Unternehmen würde zunehmen. Die Regierungen wären gefordert, weitere Entlastungspakete zu schnüren, die letztlich zu einer höheren Staatsverschuldung führen und damit zukünftige Generationen an den Kosten des Krieges beteiligen.

Kurzfristig dürften auch Preisdeckel oder Importembargos für Energie aus Russland kaum Änderungen der russischen Kriegspolitik auslösen. Der Ausfall an Deviseneinnahmen wäre für Russland angesichts der hohen Devisenpolster für einige Zeit verkraftbar, die für die Finanzierung des Krieges ohnehin nicht die ausschlaggebende Rolle spielen. Die langfristige Schwächung der russischen Volkswirtschaft durch dauerhafte niedrige Energieexporte in die Märkte der OECD-Länder wären allerdings gravierend. Fraglich ist jedoch, ob dies im politischen Kalkül Putins eine Rolle spielt und ob nicht die Erwartung dominiert, dass man die Lieferungen in befreundete Staaten wie China und Indien langfristig entsprechend erhöhen könnte.

Die Bündnisse der Autokraten

Die Umlenkung von Handels- und Kapitalströmen ist bereits in vollem Gange. China hat seine Exporte nach Russland über die Jahre massiv ausgebaut und ist schon vor dem Krieg der mit weitem Abstand größte Lieferant Russlands geworden; eine Position, die vor zwanzig Jahren noch Deutschland innehatte. Die Bündnisse zwischen Russland und China sowie die mit anderen autokratischen Staaten werden deutlich stärker. Die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung wird sich dadurch erheblich ändern.

Aus der Sicht der demokratischen Ländergemeinschaft ist das keine gute Entwicklung, weder politisch noch ökonomisch. Die Vorteile des weltweiten Warenaustauschs werden in geringerem Umfang genutzt und die ohnehin überschaubare Zusammenarbeit in wichtigen weltpolitischen Fragen wie der Klimapolitik oder der Entwicklungspolitik wird weiter gemindert. Um dem etwas entgegenzusetzen, bedarf es des Dialogs und der Weiterentwicklung des internationalen Regelwerks. Auf wirtschaftliche Sanktionen, die sich zunehmend auch gegen China richten könnten, darf man sich nicht verlassen, sie werden eher nationalistische Tendenzen in der Politik verschärfen.

Fazit

Man muss sich wohl darauf einstellen, dass die Kämpfe in der Ukraine für geraume Zeit weitergehen werden. Sanktionen werden die Situation kurzfristig wohl kaum verändern, eher militärische Misserfolge der russischen Armee. Da ein Waffenstillstand und politische Verhandlungen nicht absehbar sind, müssen sich insbesondere die europäischen Länder auf eine längere Phase der Belastungen und der Energieknappheit einstellen. Die Bereitschaft, harte Einschränkungen aufgrund der Sanktionen und der Gegenreaktionen zu akzeptieren, wird auf die Probe gestellt werden, zumal die Sanktionen kurzfristig keine massive Schwächung Russlands bewirkt haben und keine Auswirkungen auf die Politik des Regimes Putin erkennbar werden. Sanktionen, die den Adressaten weniger stark treffen als den Absendern sind widersinnig und werden immer schwerer vermittelbar werden.

Eine Lockerung der Sanktionen steht jedoch politisch nicht zur Debatte, da keine Verhandlungsangebote Moskaus gegeben sind. Die langfristigen Schäden für die russische Wirtschaft scheinen keine Bereitschaft zum Umsteuern auszulösen. Die Krise wird über militärische und politische Prozesse gelöst werden müssen, nicht über Sanktionen. Gelingt das in naher Zukunft nicht, wird Russland immer stärker zum Verbündeten Chinas werden. China wird dadurch an Stärke gewinnen. Diese Einsicht dürfte auch in der US-amerikanische Politik vorhanden sein, deren Fokus ja vor allem in Asien liegt. Das könnte den Druck erhöhen, eine politische Lösung der Ukrainekriegs herbeizuführen und damit auch Wirtschaftsbeziehungen zu Russland wiederaufzunehmen. Die Aussicht darauf ist allerdings noch etwas entfernt.

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Dr. Michael Heise
Chefökonom
HQ Trust
Dr. Michael Heise ist Chefökonom von HQ Trust. Er zählt zu den bekanntesten Volkswirten des deutschsprachigen Raumes. Vor seinem Start bei HQ Trust war er Leiter des Group Centers Economic Research der Allianz SE sowie Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dr. Michael Heise lehrt als Honorarprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied in diversen hochrangigen Ausschüssen und des Planungsstabes des House of Finance.
Inhaltsverzeichnis
  1. Sanktionen wirken nur langfristig
  2. Kurzfristig erzielt Russland Rekordüberschüsse
  3. Mögliche Folgen von Preisobergrenzen für russisches Gas und Öl
  4. Ein Lieferstopp würde die Energiekrise erheblich verstärken
  5. Die Bündnisse der Autokraten
  6. Fazit