Deutschland steht am Rande einer Rezession. Die Kaufkraft der Konsumenten leidet unter dem Inflationsschub, der inzwischen viele Gütergruppen erfasst hat. Dr. Michael Heise über gesellschaftlichen Sprengstoff, nutzlose pauschale Hinweise – und das fehlende ganzheitliche Konzept für die Wirtschaftspolitik.

Als industrieintensive und offene Volkswirtschaft ist Deutschland von den hochschnellenden Energie- und Rohstoffkosten sowie den weltweiten Lieferengpässen noch stärker betroffen als viele andere OECD-Länder. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte sich nach dem Mini-Wachstum im ersten Quartal auch im weiteren Verlauf des Jahres kaum erhöhen und im Jahresdurchschnitt um lediglich rund 1 % ansteigen, während in der EWU knapp 2 % realistisch erscheinen.

Die massive Verteuerung von Energie belastet sowohl die Unternehmen wie auch privaten Haushalte. Auf der Verbraucherstufe hat sich Energie in den vergangenen Monaten gegenüber Vorjahreswerten um 35 bis 40 % verteuert. Weitere Erhöhungen von Gas- und Stromrechnungen sind aufgrund der verzögerten Preisanpassung in vielen Kontrakten zu erwarten. Als Kostenfaktor in der Produktion haben steigende Energiekosten zudem viele andere Waren deutlich verteuert. Das Problem: Solange der Ukrainekrieg und die Sanktionen gegenüber Russland anhalten, und ein Ende ist leider nicht absehbar, werden die Energiemärkte angespannt bleiben.

Eine Entwicklung mit gesellschaftlichem und politischem Sprengstoff

Wenn Energierechnungen nicht mehr bezahlt oder Wohnungen nicht vernünftig geheizt werden können, wird die Politik unter erheblichen Druck kommen. Bislang sind die hohen Energiepreise als Folge des Krieges in der Ukraine und der Sanktionen gegenüber Russland wohl von vielen Menschen akzeptiert worden, da die Sanktionen die russische Wirtschaft langfristig schwächen und die Kriegsfinanzierung erschweren. Tatsächlich haben sie aber keine Kehrtwende oder ein Einlenken in der russischen Politik erzeugt.

Russland profitiert von den gewaltigen Preiserhöhungen für Energieressourcen und hat wohl schon im ersten Halbjahr Rekordwerte bei Exporteinnahmen und Außenhandelsüberschüsse verbucht. Gleichzeitig hat sich der Handelsbilanzüberschuss Deutschland aufgrund eines Importpreisanstiegs von rund 30 % in den Sommermonaten weitgehend aufgelöst. Da Putin Lieferkürzungen bei Gas als Druckmittel einsetzt, ist vorerst nicht mit ermäßigten Preisen zu rechnen.

Für die deutsche Politik hat das zur Folge, dass weitere Entlastungsprogramme kommen werden, um die Folgen für die privaten Haushalte und für die betroffenen Unternehmen abzufedern. Im Ergebnis werden die Staatsschulden weiter steigen, was höhere Zinslasten des Staates nach sich zieht und zukünftige Generationen an den Kosten des Krieges beteiligt.

Langfristige Risiken für den Standort Deutschland

Neben den konjunkturellen Wirkungen stellen sich auch Fragen bezüglich des längerfristigen Geschäftsmodells deutscher Unternehmen. Schon heute sind die Energiepreise im internationalen Vergleich außerordentlich hoch: Beim Strompreis liegt Deutschland sowohl für Industrieabnehmer wie für private Haushalte an der Spitze der europäischen Länder. Die Umfinanzierung der EEG-Umlage durch das Steueraufkommen hat eine Einmalsenkung des Strompreises bewirkt, wird aber den steigenden Trend nicht ändern. Und die Preise für Gas liegen hierzulande und in anderen europäischen Ländern um ein Vielfaches über den Preisen in den USA. Für energieintensive Unternehmen gibt es also genügend Gründe, den Standort Deutschland zu überdenken.

Über viele Jahrzehnte konnte man in Deutschland mit anderen Standortvorteilen punkten, etwa einer erstklassigen Infrastruktur, einer effizienten Verwaltung, dem technologischen Vorsprung und einem sehr guten Bildungssystem. Dieses Bild entspricht aber nicht mehr der heutigen Realität. Die einst hochgelobte Infrastruktur hat an Qualität eingebüßt und ist in vielen Bereichen als marode zu bezeichnen. Der Investitionsstau bei der Schiene, den Straßen, der Digitalisierung und im Bildungsbereich ist weithin bekannt – und er hat nicht nur finanzielle Gründe. Technologische Innovationen finden hierzulande vielfach statt, werden aber nicht zu großdimensionierten ökonomischen Erfolgen gemacht. Qualifizierte Arbeitskräfte sind knapp.

Wenig attraktiv ist Deutschland auch angesichts einer überdurchschnittlichen Steuer- und Abgabenbelastung im EU- oder OECD-Vergleich. Die Sozialabgaben haben trotz Vollbeschäftigung wieder 40 Prozent des Bruttoeinkommens der Arbeitnehmer erreicht. Diese Belastungen werden im Zuge des Bevölkerungsrückgangs und der Alterung der Gesellschaft weiter ansteigen. In diesem Umfeld ist es nicht verwunderlich, dass die privaten Ausrüstungsinvestitionen in Deutschland im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt seit Jahren deutlich zurückgehen und der Produktivitätsfortschritt zu wünschen übrig lässt.

Die Transformation braucht eine solide wirtschaftliche Basis

Die deutsche Wirtschaft startet also keineswegs aus der Pole-Position, sondern eher von einem der hinteren Plätze in die anstehende Transformation der Wirtschaft in eine grüne und digitale Zukunft. Um diese Transformation ohne große Wohlstandseinbußen zu meistern, bedarf es – so viel ist wohl klar – weitaus größerer privater Investitionen in hochproduktive Arbeitsplätze und in effiziente, klimaschonende Technologien. Die Wirtschaftspolitik ist dafür verantwortlich, dass die Rahmenbedingungen für solche Investitionen und Innovationen stimmen.

Zusätzliche Investitionen des Staates in die physische Infrastruktur und das Bildungssystem sind wichtige, aber eher langfristig wirksame Schritte. Um die aktuelle Stagnation zu überwinden und rasch Fortschritte zu erzielen, wäre eher an Maßnahmen zu denken, die die aktuellen angebotsseitigen Probleme überwinden helfen. So könnte der akute Fachkräftemangel durch flexiblere Beschäftigungsmöglichkeiten im Hinblick auf Arbeitszeiten oder Leiharbeit sowie eine erleichterte Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften gemindert werden. Auch sollten die Kurzarbeiterregelungen auslaufen.

Schnellere Genehmigungsverfahren und weniger Bürokratie könnten Investitionshindernisse abbauen, wie das ja bei erneuerbaren Energieprojekten auch gemacht wird. Steuerliche Entlastungen sind geboten, um rein inflationsbedingte Steuermehrbelastungen bei Unternehmen und privaten Haushalten zu kompensieren. Die „Superabschreibung“ für Klima- und Digitalisierungsprojekte, die bislang noch nicht umgesetzt wurde, würde ebenfalls einen deutlichen Investitionsanreiz geben.

Ein pauschaler Hinweis auf erneuerbare Energien nützt wenig

Große Risiken für den Standort Deutschland ergeben sich derzeit aus der Energiekrise. Die deutsche Regierung plant derzeit, die Verstromung von Gas zu beenden (13 % der Stromproduktion), die verbliebenen AKWs (6 %) abzuschalten und den Ausfall durch eine vorübergehend erhöhte Stromproduktion durch Kohle und durch Ersparnisse beim Stromverbrauch zu kompensieren. Diese Politik beruht auf der Vorstellung, dass Deutschland vor allem bei Gas (und Wärme), aber nicht bei Strom ein Problem habe. In einer Situation, in der in großen Teilen Europas eine akute Stromknappheit existiert, ist die Abschaltung der AKWs und die Nicht-Inbetriebnahme noch vorhandener kaum nachvollziehbar. Erneuerbare Energien werden kurzfristig kaum Ausgleich schaffen können und bei der wenig umweltfreundlichen Kohle sind erhebliche logistische Probleme zu überwinden.

Mittelfristig ist mit einem enorm steigenden Strombedarf zu rechnen, wenn der Vormarsch der e-Mobilität und der Wärmepumpen gelingen soll und wenn die Industrie – ebenfalls politisch gewünscht – immer stärker elektrifiziert. Der pauschale Hinweis auf Erneuerbare wird wenig nützen, wenn die fehlenden Verteilungskapazitäten und Stromspeicher nicht rasch aufgebaut werden. Wenn in diesen zentralen energiepolitischen Fragen eine kurzsichtige Politik betrieben wird, wird der Standort Deutschland erheblichen Schaden nehmen.

Fazit

Es ist nachvollziehbar, dass die Ukrainekrise die Aufmerksamkeit der Regierung in den vergangenen Monaten voll in Anspruch genommen hat. Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Krise machen es aber immer dringlicher, die Standort- und Wettbewerbsbedingungen in Deutschland wieder zu verbessern.

Deutschland braucht eine starke wirtschaftliche Basis, um die grüne und die digitale Transformation in einer sozial gerechten Weise zu bewerkstelligen. Es bedarf eines ganzheitlichen Konzepts der Wirtschaftspolitik, bei dem unvermeidbare oder politische gewollte Mehrbelastungen der Unternehmen, der Arbeitnehmer und der Selbständigen durch wirksame Entlastungen an anderer Stelle ausgeglichen oder besser überkompensiert werden. Leider ist dieser Blick in den vergangenen Jahren etwas verloren gegangen.

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Dr. Michael Heise
Chefökonom
HQ Trust
Dr. Michael Heise ist Chefökonom von HQ Trust. Er zählt zu den bekanntesten Volkswirten des deutschsprachigen Raumes. Vor seinem Start bei HQ Trust war er Leiter des Group Centers Economic Research der Allianz SE sowie Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dr. Michael Heise lehrt als Honorarprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied in diversen hochrangigen Ausschüssen und des Planungsstabes des House of Finance.
Inhaltsverzeichnis
  1. Eine Entwicklung mit gesellschaftlichem und politischem Sprengstoff
  2. Langfristige Risiken für den Standort Deutschland
  3. Die Transformation braucht eine solide wirtschaftliche Basis
  4. Ein pauschaler Hinweis auf erneuerbare Energien nützt wenig
  5. Fazit