Niemand konnte Covid-Pandemie und Ukrainekrieg punktgenau vorhersagen. Mit Blick auf die Preissteigerungen waren die Fehleinschätzungen der EZB aber besonders ausgeprägt und folgenreich. Die Bekämpfung der Inflation wird das Wachstum schwächen und Haushalte wie Unternehmen belasten. Vermeidbar sind die Kosten nicht. Mit einem klaren und verlässlichen Stabilisierungskurs lassen sie sich jedoch begrenzen.
Die aktuelle Debatte zur Geldpolitik der EZB dreht sich vor allem um eine Frage: Wie viele Zinserhöhungen noch anstehen könnten, bis der Höhepunkt in diesem Zinszyklus erreicht ist. An den Finanzmärkten wird überwiegend damit gerechnet, dass bis zum Jahresende noch zwei (kleinere) Zinserhöhungen zu erwarten sind. Es könnten allerdings auch mehr werden, wenn sich die von Energie- und Nahrungsmittelpreisen nicht direkt beeinflusste Kerninflation so hartnäckig zeigt wie in den vergangenen Monaten. Für die kurzfristige Entwicklung der Anleihemärkte und der Aktienmärkte ist das eine der wichtigsten Fragen. Je nach Kurs der EZB kann es zu Erholungstendenzen oder Rückschlägen kommen.
Von besonderer Bedeutung ist jedoch die langfristige Perspektive. Welche Schlüsse wird die EZB aus den Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahrzehnte ziehen, in denen die Inflationsziele trotz ultraexpansiver Politik in ihrer Wahrnehmung zunächst deutlich unterschritten und dann ab 2021 in recht drastischer und unerwarteter Weise überschritten wurden und die EZB zu einer abrupten Kehrtwende zwangen: Was sind die „lessons learned“, die Lehren, aus dieser Entwicklung?
In Zeiten niedriger Inflation änderte die EZB im Jahr 2021 ihre Strategie
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Strategieüberprüfung, die die EZB im Juli 2021 abgeschlossen hat. Unter dem Eindruck der über mehrere Jahre sehr niedrigen Inflation und dem abwärts gerichteten Realzinstrend gab die EZB einige Änderungen bekannt. Vor allem wurde ein symmetrisches und mittelfristiges Inflationsziel von 2% festgelegt und das vormals gültige Stabilitätsziel von unter, aber nahe bei 2 %, Inflation ersetzt. Die EZB bestätigte falls erforderlich den Einsatz unkonventioneller Instrumente wie längerfristige Aussagen zur Zinsentwicklung („forward guidance“), großangelegte Anleihekäufe und Langfristkredite sowie negative Leitzinsen.
Als Basis für die geldpolitischen Entscheidungen kündigte sie einen integrierten Analyserahmen an, der das frühere Zwei-Säulen-System mit einer wirtschaftlichen und einer monetären Analysesäule ersetzt. Die Relevanz der Geldmengenaggregate für die geldpolitischen Entscheidungen wird dadurch weiter relativiert. Auch erlaubt der integrierte Analyserahmen eine stärkere Beachtung von realwirtschaftlichen und finanzwirtschaftlichen Folgen der EZB Politik. Ergänzt wird die Strategie durch eine stärkere Unterstützung der Klimaziele.
Es kam zu gravierenden Fehleinschätzungen der Inflation
Weder Zentralbanken noch andere Prognostiker haben eine vollständige Voraussicht über zukünftige Konjunktur- und Preisentwicklungen. Plötzliche auftretende Schocks wie die Covid-Pandemie und die Energiekrise nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind nicht prognostizierbar und sie haben einen erheblichen Einfluss auf die Inflation gehabt. Auf der einen Seite stieg die Nachfrage nach Waren in 2020 und 2021 kräftig an, während die Produktion durch Angebotsengpässe und unterbrochene Lieferketten gedrückt wurde.
Wenige Prognostiker haben diese Effekte frühzeitig erkannt. Die Fehleinschätzungen der Zentralbank waren jedoch besonders ausgeprägt und von herausragender Bedeutung für den Kurs der Geldpolitik. So hat die EZB lange Zeit eine Änderung ihrer Politik mit Hinweis auf den vorübergehenden Charakter der Inflation und auf günstige Projektionen zur Preisstabilität abgelehnt. Noch im November 2021, als die Jahresveränderung des Harmonisierten Verbraucherpreisindex bei 4,9% lag, argumentierte etwa EZB-Direktorin Isabel Schnabel: „Wir gehen davon aus, dass im November [21] der Höhepunkt der Inflationsentwicklung erreicht ist und dass die Inflation im kommenden Jahr wieder allmählich zurückgehen wird, und zwar in Richtung unseres Inflationsziels von zwei Prozent.“
Es kam - zugestanden auch wegen des Ukraine-Kriegs - völlig anders. Im Frühjahr 2022 wurde von der EZB dann stärkerer Handlungsbedarf signalisiert, aber erst im Juli 2022 – bei einer Inflationsrate von sage und schreibe 8,9 % - erfolgte die erste Anhebung der Leitzinsen (beim Einlagensatz von -0,5% auf 0%). Inzwischen hat sich die Tonlage vollkommen gedreht und die EZB weist auf die Gefahren allzu hoher und sehr hartnäckiger Inflation hin.
Die langfristigen Zinszusagen erwiesen sich als kontraproduktiv
Ein Grund für die verspätete Reaktion der EZB auf den Inflationsschub lag in der sogenannten „forward guidance“, einem unkonventionellen Instrument der Notenbank, mit dem noch in 2021 für die Zeit bis 2024 Leitzinsen von Null und darunter angekündigt worden waren und eine Beendigung der Anleihekäufe als Voraussetzung für eine Zinserhöhung festgelegt wurde. Diese Selbstbindung der Politik, die sie aufgrund ihrer Erwartung niedriger Inflation eingegangen war und die vorhandenen Unsicherheiten negierte, haben sich als kontraproduktiv erweisen, weil sie eine zeitige Reaktion auf die Inflation verhinderte.
Folgerichtig ist die EZB dann ab August 2022 dazu übergegangen, geldpolitische Entscheidungen von Sitzung zu Sitzung anhand der eingehenden Daten und der daraus resultierenden Schlussfolgerungen zu treffen (Meeting by Meeting Approach; MBM). Mit dieser Vorgehensweise ist mehr Flexibilität verbunden, die in Zeiten äußerst großer Unsicherheiten und erheblicher Inflationsdynamik nötig ist.
Die Unsicherheiten in der Diagnose und Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung, die geldpolitische Entscheidungen seit jeher begleiten, sind durch die modellbasierten Paradigmen der letzten Jahre (nicht nur in der EWU) etwas aus dem Blick geraten. Die Vorstellung, dass wir in einer Welt sehr niedriger, möglicherweise sogar negativer Gleichgewichtszinsen leben und die Notenbanken deswegen nur über großangelegte Anleihekäufe Einfluss nehmen können, hat die Politik lange Jahre geprägt. Wenn man die Gedankenlogik auf die heutige Situation überträgt, kommt man zu ganz anderen Ergebnissen. Denn das hartnäckige Überschießen der Inflation über die gewünschten zwei Prozent spricht dafür, dass das aktuelle Zinsniveau den nicht direkt beobachtbaren gleichgewichtigen Zins noch nicht erreicht hat. Er läge dann viel höher als das die früheren Modellrechnungen nahelegten. Eineindeutige Handlungsanweisungen sind jedoch im Umfeld sehr großer Unsicherheit immer problematisch.
Die EZB sollte die Geldmengenveränderungen stärker beachten
Die Stabilisierung des Preisniveaus und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist ein mittelfristig angelegtes Ziel. Das ist seit den fehlgeschlagenen inflationären Versuchen einer kurzfristig konjunkturorientierten Politik in den 1960er und 70er Jahren wohl weithin akzeptiert. Aber wie kann es umgesetzt werden? Ein Weg war es in den Jahren des Monetarismus, den Stabilitätsbeitrag der Geldpolitik anhand der Entwicklung der Geldmengen- und Kreditaggregate zu bemessen, die die Geldpolitik zumindest stärker beeinflussen kann als das Endziel des Preisniveaus. Über die Zeit ist die Betrachtung von Geldmengenaggregaten dann wieder aus der Mode gekommen und auch die EZB hat die Bedeutung der Geldmengenentwicklung mit Verweis auf den vermeintlich gelockerten Zusammenhang zur Preisniveauentwicklung relativiert.
Empirische Ergebnisse sind aber immer zeitabhängig. Hätte man sich in den vergangenen drei bis vier Jahren etwas mehr an der Geldmengenentwicklung orientiert – die Geldmenge M1 war in den Jahren 2020 und 2021 zusammengenommen um rund 25 % hochgeschnellt – wäre die Normalisierung der Geldpolitik wohl deutlich früher und beherzter angegangen worden. Auch wenn viele von der Geldpolitik kurzfristig nicht beeinflussbare Faktoren eine Rolle spielten, hätte der Anstieg der Anstieg der Inflation auf 8,4 % in 2022 zumindest gebremst werden können, der dem schubartigen Anstieg der Geldmenge dann folgte. Aufgrund der Zinserhöhungen seit Mitte 2022 hat sich die eng gefasste Geldmenge in der Eurozone wieder deutlich zurückgebildet, was ein gutes Vorzeichen für eine bevorstehende Verlangsamung der Inflation ist.
Im Rückblick erscheinen die Anleihekäufe fragwürdig
Die EZB hat in den Zeiten niedriger Inflation oft auf mögliche Probleme bei der Transmission ihrer geldpolitischen Impulse in die Realwirtschaft und vor allem auf das Problem der effektiven Zinsuntergrenze hingewiesen, die sie mit ihren Leitzinsen nicht unterschreiten kann und die ihren Handlungsspielraum einschränkt. Sie hat daher immense Anleihekaufprogrammen aufgelegt und in großem Umfang Zinsrisiken aus dem Markt genommen und die Renditen an den Kapitalmärkten gedrückt. Die Preise für Staatsanleihen stiegen kräftig an und zogen auch die Bewertungen von Vermögenstiteln wie Aktien, Beteiligungen oder Immobilien nach oben.
Wie stark der Anstieg der Vermögenspreise die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und die Preisentwicklung stimuliert haben, ist umstritten, denn es gab auch negative Effekte. Eine stärkere Ungleichheit der Vermögensverteilung und ein verlangsamtes Wachstum der Altersvorsorgevermögen dürften zu höherer Ersparnis geführt haben und damit expansive Effekte der Anleihekäufe gedämpft haben.
Unabhängig davon, wie man die Wirkungen der unkonventionellen Politik einschätzt, unbestreitbar ist, dass wir nun eine Korrektur der Entwicklung erleben. Die unabweisbare Kehrtwende der Geldpolitik hat in 2022 erhebliche Vermögensverluste sowohl bei Anleihen wie bei Aktien und inzwischen auch bei Immobilien nach sich gezogen. Die Finanzierungbedingungen haben sich durch deutlich strengere Kreditvergabestandards der Banken erheblich verschlechtert und Firmenkundenkredite sowie Wohnungsbaukredite haben sich massiv verteuert. Die Wirtschaft im Eurogebiet stagniert. Krisenhafte Entwicklungen an den Finanzmärkten sind bislang auf die USA und die Schweiz beschränkt, aber es muss auch in anderen Ländern mit deutlichen Wertberichtigungen unter anderem bei Immobilien und Immobilienkrediten gerechnet werden, die Risiken für die Finanzmarktstabilität erzeugen.
Der in der Vergangenheit erzielte geldpolitische Stimulus steigender Vermögenswerte wird nun durch entsprechende Belastungen für private Haushalte und die Unternehmen abgelöst.
Das gilt im Übrigen auch für die Zentralbank selbst, denn der gewaltige Bestand an Anleihen, die sie im Rahmen der quantitativen Lockerung erworben haben, hat durch die höhere Kapitalmarktrendite erheblich an Marktwert eingebüßt. Ein Verkauf dieser Anleihen würde aus stillen Verlusten realisierte Verluste machen und den Renditeanstieg weiter erhöhen. Es ist aus diesen Gründen wohl nur mit einer sehr langsamen Rückführung der Anleihebestände der EZB zu rechnen.
Für die Geldpolitik sind die Inflationserwartungen von besonderer Bedeutung
Eine wichtige Voraussetzung für die langfristige Stabilität des Preisniveaus ist es, die Inflationserwartungen der Wirtschaftsteilnehmer möglich fest auf dem Stabilitätsziel zu verankern. Der EZB ist dies bis zu dem aktuellen Inflationsschock recht gut gelungen. Auch in der aktuellen Situation mit sehr hoher Inflation sehen die Finanzmarktteilnehmer über die nächsten fünf oder zehn Jahre lediglich eine Inflation von etwa 2,5 % voraus, was zumindest nicht sehr weit von den Zielwerten der Zentralbank entfernt liegt.
In Bezug auf die privaten Haushalte sind allerdings deutlich größere Inflationssorgen und damit Abweichungen vom Stabilitätsziel der Notenbank gegeben. Dem sollte und wird die EZB bei weiteren Entscheidungen Rechnung tragen und ihren Stabilisierungskurs fortsetzen, bis sich die Inflationserwartungen der privaten Haushalte normalisieren.
Um das zu erreichen, ist die Glaubwürdigkeit der Notenbank von zentraler Bedeutung. Diese wird die EZB nun auch unter sehr schwierigen Bedingungen unter Beweis stellen müssen. Ein konsequenter Ausstieg aus der jahrelang expansiven Politik mit einem erhöhten Zinsniveau und einem Abbau der großen Anleihebestände wird nicht nur die eigene Bilanz der Zentralbank belasten, sondern die wirtschaftliche Entwicklung weiter abbremsen und Finanzierungsschwierigkeiten für viele Haushalte – auch die Staatshaushalte – und die Unternehmen mit sich bringen.
Fazit
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich in den vergangenen Jahren drastisch verändert, und lassen die Ankündigungen der EZB nach der Strategieüberprüfung in 2020 und 2021 als überholt erscheinen. Es geht offenkundig nicht darum, wie die EZB damals meinte, die Inflation anzukurbeln, sondern im Gegenteil, allzu hohe Inflationserwartungen wieder in der Nähe des Ziels von 2 % zu verankern.
Die Bekämpfung hoher Inflation wird, wie bereits zu sehen ist, Kosten verursachen: in Form geringen Wachstums und einer Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen. Weitreichende Ankündigungen über die Höhe der Zinsen werden kaum möglich sein und der Abbau der Anleihebestände der Zentralbank wird ein schwieriger, lang andauernder und auch politisch kontroverser Prozess werden. Es ist jetzt der Preis für die äußerst expansiven unkonventionellen Maßnahmen der Vergangenheit zu zahlen. Vermeidbar sind die Belastungen nicht, die dadurch entstehen. Sie sind aber umso geringer, je glaubwürdiger und verlässlicher die Aktionen der Zentralbank sind. Ein konsequenter und klar kommunizierter Stabilisierungskurs, bei dem das erforderliche Zinsniveau für eine Weile durchgehalten und der Abbau der aufgeblähten Bilanz angegangen wird, sollte die Reputationsschäden, die die Inflationsbeschleunigung gebracht hat, bald beheben und die Glaubwürdigkeit der EZB festigen.
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