Die deutsche Wirtschaft ist in schweres Fahrwasser geraten: Ukrainekrieg und Energiekrise haben bestehende Probleme noch verstärkt – und die Politik veranlasst, sich vor allem um aktuelle Fragen zu kümmern. Eine Inaktivität in der Standortpolitik ist aber genauso riskant.
Es ist unbestreitbar, dass die deutsche Wirtschaft unter erheblichen Belastungen steht. So erwarten Bundesregierung wie auch die vier Wirtschaftsforschungsinstitute eine rückläufige Wirtschaftsleistung von -0,4 % in 2023. Deutschland steht damit am Ende der Wachstumsskala der entwickelten Länder. Damit nicht genug: Viele erwarten aufgrund der Energiekrise eine Deindustrialisierung und damit auch langfristig einen Verlust an Wohlstand in der deutschen Wirtschaft.
Eine Rezession ist also Konsens. Aber wie tief wird sie? Zunächst ein Blick auf die kurzfristige Entwicklung: Derzeit wirken mehrere Abwärtskräfte zusammen. Besonders hervorzuheben ist die schwere Energiekrise, die exorbitante Preissteigerungen insbesondere für Gas und Strom nach sich zieht. Ein großer Teil der privaten Haushalte, zahlreiche Gewerbetreibende und Unternehmen bangen um ihre wirtschaftliche Existenz, weil sie Energierechnungen nicht bezahlen können oder sie mit großem Verlust produzieren.
Zusammen mit steigenden Lebensmittelpreisen hat die Energiekrise den Anstoß für eine Inflation gegeben, die selbst die Ölpreiskrisen der 1970er Jahre in den Schatten stellt. Die Kaufkraftverluste bremsen die Konjunktur, zumal die hohen Aufwendungen für den Energieimport dem heimischen Kreislauf entzogen werden. Dieser Bremseffekt wird noch dadurch verstärkt, dass die EZB auf den schubartigen Anstieg der Inflation mit steigenden Zinsen reagiert hat, um die zunehmenden Inflationserwartungen zu begrenzen.
Ökonomische Schwarzmaler vergessen drei stabilisierende Faktoren
Es gibt aber auch stabilisierende Faktoren. Erstens hat die marktwirtschaftliche Anpassung an den Gas- und Strompreisschock begonnen. Durch Ersparnisse beim Verbrauch, die Erschließung neuer Anbieter und verstärkte Anstrengungen zur Gewinnung von Gas und erneuerbaren Energien haben die Energiepreise bereits deutlich nachgegeben. Mit einer gewissen Verzögerung wird das die Inflationsraten und damit die Kaufkraftverluste der Konsumenten deutlich reduzieren.
Zweitens befinden sich die Länder der Eurozone und der OECD in einer Situation sehr hoher Arbeitsnachfrage und niedriger Arbeitslosigkeit. Viele Unternehmen suchen händeringend Arbeitskräfte, um die hohen Auftragsbestände, die sich vor allem aus der Zeit der Covid-Beschränkungen stammen, abzuarbeiten. Sicher werden die sehr hohen Zahlen an offenen Stellen im Zuge der derzeitigen Konjunkturabkühlung zurückgehen, aber es deutet kaum etwas darauf hin, dass große Entlassungswellen anstehen.
Drittens werden beachtliche schuldenfinanzierte staatliche Entlastungsprogramme Kaufkraftverluste und Kostensteigerungen in Grenzen halten. Die Unterstützung des Staates ist vor allem in unteren und mittleren Einkommensbereichen notwendig, da viele Haushalte nicht in der Lage sind, die monatlichen Energiekosten zu begleichen und viele Gewerbetreibende vor einer Geschäftsaufgabe stünden. Für industrielle Großabnehmer von Energie sind Regelungen für den Jahresbeginn 2023 vorgesehen, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und weitere Produktionsstillegungen und Insolvenzen in energieintensiven Bereichen zu vermeiden.
Die Deindustrialisierung ist ein Risiko
Allerdings stellt sich auch die Frage nach den langfristigen Perspektiven der deutschen Wirtschaft. Droht ein Wohlstandsverlust durch eine Deindustrialisierung und ein Scheitern des „Geschäftsmodells Deutschland“? Unbestreitbar ist, dass die Wirtschaft aufgrund ihres hohen Industrieanteils und ihrer Exportabhängigkeit von den Energiepreisen stärker belastet ist als andere Volkswirtschaften.
Die deutsche Industrie musste zwar immer mit hohen Energiekosten zurechtkommen, aber die plötzliche Vervielfachung macht viele Produktionen unrentabel. Würden die Gas- und Strompreise längere Zeit auf dem Durchschnittsniveau seit März 2022 bleiben, wäre mit einem Exodus an energieintensiven Produktionen zu rechnen. Um der Gefahr einer Deindustrialisierung entgegenzutreten, ist daher die Aussicht auf eine sichere und wirtschaftliche Energieversorgung wichtig. Die deutsche Energiewende erzeugt indes eher Verunsicherung.
Neue Formen der Globalisierung bilden sich heraus
Zusätzliche Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft bringen Veränderungen im internationalen Umfeld. Bereits seit der Finanzkrise ist eine relative Verlangsamung des Welthandels und des Weltkapitalverkehrs zu beobachten. Und als eine Folge der Ukrainekrise bilden sich neue Formen der Globalisierung heraus, in denen Deutschland seine Position noch behaupten muss. Dabei fällt weniger ins Gewicht, dass die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland wohl geraume Zeit auf Eis liegen dürften. Bedeutsamer ist, dass das Geschäft mit China auch unter dem Blickwinkel hoher Abhängigkeiten auf der Export- und Importseite kritisch betrachtet wird. China hat sich nicht nur stärker mit Russland verbunden, sondern durch Staatsinterventionen in der Wirtschaft und die Kompromisslosigkeit bei der Durchsetzung politischer Ziele für große Verunsicherung gesorgt.
So sind viele Unternehmen im Begriff, ihr China-Engagement zu überdenken. Einen großangelegten Rückzug wird es zwar nicht geben, er hätte auch katastrophale Auswirkungen auf den Wohlstand in Deutschland. Aber schrittweise werden die Unternehmen daran gehen, Beschaffungsmärkte, Absatzmärkte und Investitionsstandorte stärker zu diversifizieren. In der asiatischen Region könnten Länder wie Vietnam, Indien oder Indonesien davon profitieren. Ein großer Gewinner dürfte aber die USA sein, die mit einem sicheren und günstigen Energieangebot, einem sehr großen Absatzmarkt und beträchtlichen Subventionen für investitionsbereite Unternehmen locken.
Handelsbeziehungen und Kapitalverkehr werden sich in Zukunft stärker an geopolitischen Bedingungen orientieren. Länder mit ähnlichen Werten und kalkulierbaren politischen Rahmenbedingungen werden den Austausch intensivieren. Für die Weltwirtschaft im Ganzen ist dagegen eine gewisse Fragmentierung zu erwarten, da sich autokratisch regierte Blöcke stärker von den Volkswirtschaften der Demokratien absetzen. Handelsvorteile werden dadurch zunichte gemacht und die Kooperation in globalen Themen wie dem Klimaschutz wird erschwert.
Eine neue Standortagenda für Deutschland ist notwendig
Man mag Verständnis dafür haben, dass die Regierung ihr volle Aufmerksamkeit zurzeit dem Ukrainekrieg und seinen Folgen widmet. Inaktivität in der Standortpolitik ist gleichwohl riskant. Denn nur eine gute Standortpolitik ist der Garant dafür, dass das international und industriell ausgerichtete Geschäftsmodell Deutschlands auch in Zukunft erfolgreich für Arbeitsplätze und Wohlstand sorgen kann.
Denn Deutschland hat auch längerfristige strukturelle Probleme, die in niedrigen Investitionen und schwachem Produktivitätsfortschritt zum Ausdruck kommen. Neben verlässlicher Energiepolitik bedarf es eines gesamtheitlichen Blicks auf die politischen Rahmenbedingungen, die eine im Export- und Industriegeschäft starke Volkswirtschaft benötigt: Je stärker die Politik Energieverbrauch und Umweltbeanspruchung verteuert, desto mehr muss sie darauf achten, dass andere Kostentreiber oder überdurchschnittliche steuerliche Belastungen zurückgeführt werden. Bei guten Standortbedingungen werden die Investitionen heimischer und internationaler Unternehmen hierzulande nicht ausbleiben.
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