Die neue Koalitionsregierung ist mit dem Ziel angetreten, Deutschland zu modernisieren und mehr Fortschritt zu wagen. Warum die richtige Wirtschaftspolitik bei der Erreichung dieser ambitionierten Ziele eine sehr wichtige Rolle spielt, erklärt Dr. Michael Heise.

Unser Land soll grüner, digitaler und schneller werden und bei alledem Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit voranbringen. Mit dem neuen Leitbild möchte die Koalitionsregierung einen Aufbruch in eine moderne und fortschrittliche Zukunft auslösen. Unterlegt wird die Zielsetzung im Rahmen des Koalitionsvertrages durch eine sehr umfassende Liste an politischen Absichtserklärungen und konkreten Vereinbarungen der Parteien für die nächsten vier Jahre.

Man kann allerdings damit rechnen, dass das politische Programm der ersten Dreierkoalition in Deutschland noch intensiv diskutiert werden wird – etwa im Hinblick darauf, welche Schritte Priorität haben und mit welchen konkreten Maßnahmen, die teilweise noch allgemein formulierten politischen Ziele angegangen werden. Manche Maßnahmen werden strittig bleiben und manche werden sich aufgrund fehlender Mittel als nicht durchführbar erweisen.

Die Finanzierbarkeit wird für viele Pläne eine schwierige Hürde sein

Da die Schuldenbremse der Verfassung weiterhin Bestand hat und nicht grundlegend geändert werden soll, werden nach den pandemiebedingten Ausnahmen ab dem Jahre 2023 wieder nur in sehr begrenztem Umfang neue Schulden aufgenommen werden können. Wie viel Geld benötigt wird, ist im Koalitionsvertrag nicht beziffert. Klar ist aber, dass es eine Menge sein wird. So sollen im Originalwortlaut „die 2020er Jahre zu einem Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen, insbesondere in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie Infrastruktur“ gemacht werden. Dazu werde eine Politik verfolgt, „die die Investitionen – privat, wie öffentlich – deutlich erhöht.“ Hinzukommen wird ein Finanzierungsbedarf durch steigende Sozialausgaben, wie etwa vom Familienministerium bereits angekündigt und wie in den Bereichen des Arbeitsministeriums und des Gesundheitsministerium geplant.

Was gemacht werden kann und wie erfolgreich die Regierung sein wird, hängt entscheidend vom Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Man ist geneigt, an Bill Clintons Aussage „It`s the economy, stupid“ zu erinnern. Nur wenn die deutsche Wirtschaft nach der Überwindung der Pandemie wieder auf einen Wachstumskurs kommt, ist mit den dringend benötigten Steuermitteln für den Staat zu rechnen, die er für seine ambitionierten Projekte braucht. Und nur bei positiver Einkommensentwicklung werden die zusätzlichen Belastungen etwa für den Klimaschutz, die Energiewende oder den Sozialstaat von den Bürgern und den Wählern akzeptiert werden.

Im Koalitionsvertrag fehlen die konkreten Maßnahmen

Benötigt werden also günstige Rahmenbedingungen für einen Anstieg der Beschäftigung, für rückläufige Arbeitslosigkeit und einen möglichst großen Spielraum für produktivitätsorientierte Lohnsteigerungen. Darüber hinaus sollte es unstrittig sein, dass die grüne und die digitale Transformation der Wirtschaft vor allem durch privatwirtschaftliche Investitionen in die Erneuerung des Kapitalstocks und durch technologische Innovationen vorangetrieben werden muss. Auch das setzt eine starke und wettbewerbsfähige Wirtschaft voraus.

Überlegungen, wie die Wirtschaft gestärkt werden kann, um die großen Herausforderungen zu meistern, werden im Koalitionsvertrag zwar angesprochen, aber nicht durch zahlreiche konkrete Maßnahmen unterlegt. Dabei hätten sie ein eigenes Kapitel und eine ganzheitliche Betrachtungsweise verdient gehabt. Einzelne Ansatzpunkte finden sich verstreut in dem Regierungsplan. So ist es sicher richtig, dass staatlichen Investitionen in die Infrastruktur sowie die Ausgaben für Forschung und Bildung zur Stärkung der Wirtschaft beitragen. Sie setzen kurzfristige Konjunkturimpulse und tragen langfristig zur Verbesserung der Produktivitätsentwicklung bei.

Allerdings ist zur Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und der Attraktivität des Standorts Deutschland mehr in den Blick zu nehmen als die Infrastruktur, die in manchen Bereichen als marode bezeichnet werden kann. Zu den wichtigen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zählen auch Dinge wie die Lohnkosten, Lohnnebenkosten, Energiekosten, Steuerbelastungen, die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte, zügige Planungs- und Genehmigungsprozesse, Rechtssicherheit, Bürokratiekosten und mehr.

In der Summe dieser Faktoren startet Deutschland in die wirtschaftliche Transformation keineswegs aus der Pole-Position. Manches ist sehr gut in diesem breiten Katalog an Rahmenbedingungen in Deutschland, doch in der Gesamtschau fällt der Standort deutlich hinter andere zurück. Seit Jahren ist das Volumen an Investitionen geringer als die Sparkraft der Bevölkerung, hohe außenwirtschaftliche Überschüsse und relativ schwache Produktivitätsfortschritte sind die Folge. Weitere Indizien sind die vergleichsweise geringe Bedeutung von Start-Ups und ein Nachlassen der Innovationsdynamik in den letzten Jahren.

Was die neue Regierung in der Wirtschaftspolitik tun sollte

Von der neuen Regierung wäre eine Wirtschaftspolitik zu erwarten, die bei diesen Schwachstellen ansetzt. Die im internationalen Vergleich in Deutschland sehr hohe Steuerquote will die Regierung nicht durch explizite Reformen angehen. Im Gespräch sind derzeit lediglich steuerfreie Einzahlungen in die Rentenkasse und eine noch näher zu definierende „Superabschreibung“ für Investitionen in den Klimaschutz oder Digitalisierungsprojekte. Abschreibungserleichterungen bringen einen Investitionsanreiz, sie sind jedoch keine Steuersenkung, sondern eine zeitliche Verlagerung von Steuerlasten.

Umso wichtiger wäre es, wenn die Koalition ihre Ankündigung wahrmacht, die Wirtschaft von Bürokratie zu entlasten, schnellere (digitale) Planungs- und Genehmigungsverfahren zu erreichen und das Staatswesen in eine digitale Zukunft zu führen. Das alles wären bedeutsame Fortschritte, zumal Bürokratieabbau keine unmittelbaren Kosten verursacht. Allerdings sind Bürokratieabbau und schlankere Verfahren auch von früheren Regierungen immer wieder versprochen, aber nie wirklich umgesetzt worden. Die Erfahrung lehrt, dass das Argument der Bürokratielasten schnell Beiseite geschoben wird, wenn „höhere“ politische Ziele erreicht werden sollen, die es etwa bei den Regulierungen zum Mindestlohn, im Umweltschutz, beim Lieferkettengesetz oder der Finanzmarktregulierung gibt. Sollte die Regierung beim Bürokratieabbau und der Verfahrensbeschleunigung vorankommen, wäre das ein echtes Gütesiegel.

Die Energie- und Umweltpolitik zählt zu den wichtigsten Projekten

Eine große Bedeutung für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands und die Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen und Arbeitsplätze liegt in der Energie- und Umweltpolitik. Das große Projekt einer möglichst raschen CO2-Neutralität muss effizienter angegangen werden, als es bisher geschehen ist. Wir haben einen moderaten Fortschritt bei der Reduzierung der CO2-Emissionen erkauft durch sehr hohe Strompreise für Unternehmen und Verbraucher, durch steigende CO2-Abgaben und Preise für Emissionszertifikate, durch einen sehr teuren Kohleausstieg, hohe staatliche Subventionen für die e-Mobilität und den schwer zu ersetzenden Verzicht auf Stromproduktion aus Atomkraft.

Erneuerbare Energien werden ausgebaut, bleiben aber teilweise ungenutzt, weil Energienetze und Speichermedien fehlen. So werden Arbeitsplätze eher gefährdet als neue geschaffen, da den Unternehmen Anreize zur Produktionsverlagerung ins Ausland mit günstigeren Kostenbedingungen gegeben werden.

Die Politik sollte die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Standortattraktivität ganzheitlich betrachten. Wenn wirtschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden, die den Unternehmen und Arbeitnehmern zusätzliche Belastungen auferlegen, sei es durch höhere Energie- und Umweltkosten, durch höhere Sozialabgaben oder Verbote und Regulierungen, dann sollten die Wirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit im Blick bleiben und Entlastungen an anderer Stelle erwogen werden.

Fazit: Die Politik braucht ein ganzheitliches Konzept

Ob die neue Regierung einen solchen Blickwinkel einnimmt, muss sich noch erweisen. Kommt es dagegen zu einer Kumulation von Belastungen für die Wirtschaft und Arbeitnehmer, weil alle Sparten der Politik von der Sozialpolitik über die Umweltpolitik bis hin zur Gesundheitspolitik scheinbar gute Gründe für höhere Abgaben, Steuern oder strengere Vorschriften haben, wird Deutschland an Wohlstand und wirtschaftlicher Stärke einbüßen. Genau das gilt es zu vermeiden. Deutschland braucht eine starke wirtschaftliche Basis um die grüne und die digitale Transformation ohne allzu große Einbußen für die Menschen zu bestehen und die Sozialsysteme finanzierbar zu halten. Das gilt umso mehr, als die Aufgaben der Dekarbonisierung und der Digitalisierung der Wirtschaft unter schwierigen demografischen Bedingungen eines knapper werdenden Erwerbspersonenpotenzials und einer alternden Gesellschaft zu bewältigen sind.

Die absehbare demografische Entwicklung wird einen hohen zusätzlichen Aufwand für die Sozialsysteme mit sich bringen. Die Brisanz dieser Entwicklung wird im Koalitionsvertrag erheblich unterschätzt, und das, obwohl schon heute rund 40 Prozent der Arbeitseinkommen von abhängig Beschäftigten für die Sozialkassen aufgewendet werden müssen und dieser Beitrag noch viel höher wäre, wenn die Sozialsysteme nicht in massiver Weise aus Steuermitteln alimentiert würden. Die Politik braucht also ein ganzheitliches Konzept. Weitere Belastungen der Arbeitnehmer und der Unternehmen sollten begrenzt und durch wirksame Entlastungen an anderer Stelle kompensiert werden. Die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum müssen verbessert werden, um Deutschland mit seinen ambitionierten Zielen erfolgreich sein zu lassen. Diese Erkenntnis sollte die Koalitionäre leiten.

Deutschlands Koalitionsvertrag: einige konkrete Vorhaben

1. Digitalisierung

  • Investitionen in die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, der Schulen und Universitäten
  • Schnelles Breitbandinternet
  • EU-basierte Herstellung von Halbleitern

2. Wohnungsmarkt

  • Regulierung der Mietpreise
  • 400.000 zusätzlicher Wohnungsbau, davon 100.000 Sozialwohnungen
  • Geförderter Erwerb von Eigenheimen

3. Klimaschutz

  • Ambitionierte Klimaschutzziele mit Fokus auf der Erreichung des 1,5-Grad-Zieles
  • Preisanhebung für Flugreisen und Förderung des Bahnangebots (Ausbau des Personenverkehrs um 50% bis 2030)
  • 80% der Energieerzeugung durch erneuerbare Quellen bis 2030
  • Kohleausstieg idealerweise 2030 sowie eine nationale Wasserstoffstrategie
  • EU-weite CO2-Abgabe und Ausbau des Emissionshandels
  • 15 Millionen vollelektrische Fahrzeuge bis 2030
  • Photovoltaik-Pflicht für Gewerbegebäude sowie Anreize für Wohnimmobilien
  • „Klimacheck“ für alle neuen Gesetze
  • 2% der Bundesfläche für Windräder
  • Senkung des Strompreises durch Abschaffung der EEG-Umlage
  • EU-weite Abschaffung von Verbrennungsmotoren bis 2035
  • Keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen

4. Unternehmen

  • „Superabschreibung” für Unternehmensinvestition in Klimaschutz- und Digitalisierungsprojekte
  • Förderung von Start-ups
  • Allgemein: Bürokratieabbau sowie schnellere Planungs- und Zulassungsverfahren

5. Stärkung der EU

  • Weg hin zum „Europäischen Bundesstaat” nach Grundsätzen von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit
  • Verstärkte Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat
  • EU-weite Investitionen in digitale Infrastruktur, übergreifendes Schienennetz, erneuerbare Energien
  • Mehr Transparenz finanzpolitischer Regelungen, anknüpfend an die flexible Gestaltung während der Corona-Pandemie
  • Wiederaufbaufonds „Next Generation EU (NGEU)” in Volumen und Dauer beschränkt
  • Voranbringen der Bankenunion innerhalb der EU, mit Fokus auf Risikoreduzierung

6. Einkommen, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik

  • Ausbau von Sozialleistungen: Bürgergeld anstelle von Hartz IV, zusätzliches Weiterbildungsgeld, weniger Belastung von Privatvermögen
  • Erhöhung des stündlichen Mindestlohns von 9,60€ auf 12€
  • Anhebung der steuerfreien Entgeltobergrenze von Minijobs
  • Einschränkung befristeter Arbeitsverträge
  • Fortführung des bestehenden Rentensystems, keine Beitragsanpassungen, keine Anhebung des Renteneintrittsalters, stabile Rentenquotienten
  • 10 Mrd.-Fonds aus Steuermitteln als Kapitaldeckung in der gesetzlichen Rentenversicherung (0,3 % des BIP)
  • Höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen durch Kindertagesstätten und Ganztagsbetreuung in Schulen, verstärkte Einwanderung

7. Finanzierung

  • Keine Kostenschätzung im Koalitionsvertrag
  • Keine Steuererhöhungen und keine neue Vermögenssteuer
  • Beachtung der Schuldenbremse ab 2023
  • Aufstockung der Mittel für Programme der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW)
  • Investitionen in den Schienenverkehr
  • Nachholung durch Corona nicht getätigte Investitionen in Form eines Klima- und Transformationsfonds im Jahr 2022, ausstehende Prüfung auf Verfassungsmäßigkeit (50-60 Mrd. EUR; 1,5% des BIP)
  • Neuberechnung der strukturellen Budgetposition in der Schuldenbremse (0,35% des BIP)
  • Verlängerung des Tilgungszeitraums auf 30 Jahre für Corona-bedingte Kredite
  • Änderungen bei der Priorisierung von Staatsausgaben

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Dr. Michael Heise
Chefökonom
HQ Trust
Dr. Michael Heise ist Chefökonom von HQ Trust. Er zählt zu den bekanntesten Volkswirten des deutschsprachigen Raumes. Vor seinem Start bei HQ Trust war er Leiter des Group Centers Economic Research der Allianz SE sowie Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dr. Michael Heise lehrt als Honorarprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied in diversen hochrangigen Ausschüssen und des Planungsstabes des House of Finance.
Inhaltsverzeichnis
  1. Die Finanzierbarkeit wird für viele Pläne eine schwierige Hürde sein
  2. Im Koalitionsvertrag fehlen die konkreten Maßnahmen
  3. Was die neue Regierung in der Wirtschaftspolitik tun sollte
  4. Die Energie- und Umweltpolitik zählt zu den wichtigsten Projekten
  5. Fazit: Die Politik braucht ein ganzheitliches Konzept
  6. Deutschlands Koalitionsvertrag: einige konkrete Vorhaben