Mit ihrem Buch „The Great Demographic Reversal” sorgen die Autoren Charles Goodhart und Manoj Pradhan für Furore. Schließlich stellen die beiden Ökonomen die Weisheit in Frage, dass Inflation und Zinsen aufgrund der Alterung der Bevölkerung noch sehr lange sehr niedrig bleiben. Eine Rezension von Dr. Michael Heise.
Die Jahrzehnte eines historisch einmaligen Anstiegs des weltweiten Arbeitsangebots liegen hinter uns. Für die Zukunft müssen wir uns auf einen fortschreitenden Rückgang der Erwerbsbevölkerung gefasst machen, der in vielen asiatischen und europäischen Ländern bereits begonnen hat. Weniger Erwerbstätige, mehr Rentner. Wie werden die globalen demografischen Verschiebungen auf Wachstum, Inflation und Zinsen wirken und wie lassen sich die Herausforderungen bewältigen?
Die zentrale These der beiden Ökonomen widerspricht in mehrfacher Sicht herkömmlichem Denken. Durch die bevorstehende radikale Umkehr der demographischen Entwicklung, werden die Kräfte versiegen, so behaupten sie, die in den vergangenen Jahrzehnten für niedrige Inflation und niedrige Zinsen gesorgt haben und die die Einkommensverteilung zugunsten der Bezieher von Kapitaleinkommen und zulasten der Lohneinkommen verschoben haben. Das Wachstum unserer Volkswirtschaften wird sich verlangsamen, so wie es auch die herkömmliche Sicht ist, aber es wird auch von höheren Inflationsraten und Zinsen begleitet sein.
Kommt es zum Anstieg der „Abhängigkeitsquote“?
Der zentrale Gedanke der beiden Autoren ist, dass die Welt vor einem inflationär wirkenden Anstieg der so-genannten „Abhängigkeitsquote“ steht, also einer Entwicklung, bei der die Zahl der beruflich noch nicht aktiven jungen und der bereits pensionierten alten Menschen weitaus stärker steigt als die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter. In den vergangenen Jahrzehnten hatte sich diese Relation im weltweiten Maßstab sehr günstig entwickelt und eine „demografische Dividende“ erzeugt. Diese werde sich aber in den kommenden Jahrzehnten in ihr Gegenteil verkehren. Die Zahl derer, die konsumieren, aber nicht mehr aktiv produzieren, werde deutlich zunehmen und das globale Güterangebot hinter der globalen Nachfrage zurückbleiben lassen. Zusammen mit einer höheren Verhandlungsmacht der Erwerbstätigen bei Lohnverhandlungen werde das die Inflation steigern. Im Zuge dieser Entwicklung werde auch das Zinsniveau steigen, denn die nicht mehr aktiven Generationen müssen entsparen, also teilweise Vermögen auflösen, um ihren Konsum zu finanzieren.
Der Rückgang der Ersparnis – manche sprechen auch von der Sparschwemme – werde stärker sein als der Rückgang der Investitionen. Die Unternehmensinvestitionen würden nicht so stark sinken, da die Wirtschaft eine höhere Kapitalintensität der Produktion anstreben muss, um mit einer abnehmenden Zahl an Erwerbspersonen zurecht zu kommen. Und auch die Staaten werden in größerem Umfang Kapital nachfragen, da sie erhebliche zusätzliche Finanzierungsmittel bräuchten, um die Sozialversicherungssysteme zu stabilisieren und den starken Anstieg der Gesundheitsausgaben in alternden Gesellschaften abzufangen.
Was sich in China ändert
Mit großer Berechtigung verweisen die Autoren darauf, dass hier globale Prozesse am Werk sind, also rein nationale Betrachtungen nicht reichen. Ihr Blick richtete sich daher auch auf die globale Bedeutung der Schwellenländer Asiens, vor allem Chinas, das jahrzehntelang Kapital exportiert und Lohnarbeit angeboten hat, nunmehr aber auch vor einer starken Alterung steht. Auch die Entwicklungen in Japan, die scheinbar im Widerspruch zur Vorhersage höherer Inflation und höheren Zinsen stehe, müssten im internationalen Kontext gesehen werden. Denn der Rückgang der Erwerbsbevölkerung in Japan wurde von einem beispiellosen Anstieg des Arbeitsangebots auf den Weltmärkten begleitet, der die Löhne unter Druck setzte und gerade den japanischen Unternehmen lukrative Investitionsmöglichkeiten im Ausland bot.
Goodhart und Padhran präsentieren ihre Überlegungen in übersichtlichen und gut lesbaren Kapiteln. Mögliche Gegenargumente zu ihrer (Minderheits-) Position werden abgewogen. Dazu gehört zum Beispiel die Überlegung, dass die vorteilhafte Demographie in Indien oder Afrika und Automatisierungsprozesse die Knappheit an Arbeitskräften weltweit auflösen könnten. Beides halten die Autoren aus nachvollziehbaren Gründen für wenig wahrscheinlich.
Wie können die Volkswirtschaften ihre enorm hohen Schulden wieder abbauen?
Ein besonders schwieriger Aspekt der Analyse liegt in der Frage, wie die Volkswirtschaften aus dem enorm hohen Schuldenstand wieder herauskommen wollen, der durch die Krisen der vergangenen Jahrzehnte und eine praktisch dauerhaft expansive Geldpolitik aufgebaut wurde. Ein „Herauswachsen“ wird kaum möglich sein, da die Demografie das Wachstum bremst. Ein Abbau der Staatsschulden durch Haushaltsüberschüsse scheint ebenfalls unrealistisch, da die Staatsausgaben vor allem für die Sozialversicherungssysteme kräftig steigen werden. Etwas Inflation wird helfen, aber sie wird die Geldpolitik auf den Plan rufen, die auf einen intensiven Konflikt mit der Finanzpolitik zusteuere.
Für den Staat erwarten die Autoren Steuererhöhungen, für den Unternehmenssektor empfehlen sie bessere Anreize für mehr Eigenkapital und weniger Fremdkapital, um die hohen Schuldenquoten abzubauen. Der dominante Einfluss auf Inflation und Zinsen wird ihrer Ansicht nach aber von den demografischen Verschiebungen ausgehen.
Fazit
Den Autoren gebührt ein großes Kompliment dafür, die Komplexität der Materie mit vielfältigen Wechselwirkungen gekonnt zu portionieren und lesbar zu machen. Sie stellen die herkömmliche Weisheit in Frage, dass Inflation und Zinsen aufgrund der Alterung der Bevölkerung noch sehr lange sehr niedrig bleiben – und stellen in überzeugender Weise die Gegenthese auf.
„The Great Demographic Reversal” ist ein sehr lesenswertes Buch für alle, die sich mit den wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der Zukunft beschäftigen möchten.
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