Wie gut ist die wirtschaftliche Situation in Deutschland nach 16 Jahren unionsgeführter Bundesregierungen? Dr. Michael Heise über Licht und Schatten der wirtschaftlichen Bilanz – und die wirtschaftspolitischen Erfordernisse der neuen Regierung.

Wie gut steht Deutschland nach 16 Jahren einer unionsgeführten Bundesregierung im Bereich der Wirtschaft da? Im internationalen Vergleich sicherlich nicht schlecht. Dennoch gibt es neben dem Licht auch erhebliche Schatten in der wirtschaftlichen Bilanz der Ära Merkel. Auf der Habenseite der Entwicklung seit 2005 stehen ein deutlicher Beschäftigungsaufschwung und ein kräftiger Rückgang der Arbeitslosigkeit. Ein erheblicher Teil dieses Erfolges hat allerdings mit den Nachwirkungen der Wirtschaftsreformen einer rot-grünen Regierung in den Jahren 2003 bis 2005 zu tun: Stichwort „Agenda 2010“.

Anzuerkennen ist auch, dass schon einige Jahre vor der Corona-Krise Überschüsse im Staatshaushalt realisiert wurden. Und dank einer soliden Haushaltssituation hat Deutschland die verschiedenen Krisen in den Merkel Jahren – die große Finanzkrise, die Euro-Schuldenkrise und die Coronakrise – relativ gut meistern können.

Das gesamtwirtschaftliche Wachstum lag im Schnitt nur bei 1,1 Prozent

Schon etwas weniger positiv erscheint die Bilanz im Hinblick auf das gesamtwirtschaftliche Wachstum, das jahresdurchschnittlich nur rund 1,1 % betrug und damit deutlich geringer war als in früheren Jahrzehnten. Das verhaltene Wachstum spiegelte sich auch in der Entwicklung der real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte wider, die trotz der positiven Beschäftigungsentwicklung in den 15 Jahren bis 2020 nur um 1 % p.a. gestiegen sind. Hierbei spielt auch eine Rolle, dass sich die Steuer- und Abgabenbelastung in Relation zur gesamten Wirtschaftsleistung seit 2005 deutlich erhöht hat, von rund 38,8 auf 41,5 % (nach VGR). Die Beschäftigungsgewinne und die sinkende Arbeitslosigkeit der vergangenen 15 Jahre sind nicht genutzt worden, um die Abgabenbelastungen zu senken.

Auch in Bezug auf ein stärkeres Wachstum der Investitionen und der Produktivität hat sich die Lage in den letzten anderthalb Jahrzehnten nicht wesentlich gebessert. Zwar ist die Quote der öffentlichen Investitionen etwas gestiegen, was jedoch an der Einrechnung von Militärausgaben liegt. Mit 2,6 % sind sie nach wie vor relativ gering. Die privaten Investitionen (ohne Wohnungsbau) sind in Relation zur Wirtschaftsleistung etwa so hoch wie 2005 (12,5%). Zusammengerechnet liegen die Investitionen in Deutschland nach wie vor deutlich unter dem heimischen Sparaufkommen. Die Folge ist ein hoher Außenhandelsüberschuss, der bei fast 6 % des BIP liegt und im Ausland regelmäßig auf Kritik stößt.

Die deutsche Wirtschaft ist in erheblichem Maße vom Export abhängig

Diese Abhängigkeit ist sogar noch gestiegen, wie man an der Exportquote ablesen kann, die von rund 38 % im Jahr 2005 zwischenzeitlich auf 47 % gestiegen war und selbst im Corona-Krisenjahr 2020 immer noch bei rund 43 % lag. Zu wünschen übrig lässt auch das Wachstum der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität, die im Zeitraum 2006-2020 bei nur 0,7 % lag (je Arbeitsstunde gemessen), das ist deutlich niedriger als in früheren Jahrzehnten.

Der geringe Produktivitätsfortschritt ist sicherlich kein Thema, das bei Wahlen Begeisterungsstürme auslösen kann, aber er ist dennoch für unsere wirtschaftliche Zukunft von entscheidender Bedeutung: Von der Produktivitätsentwicklung wird es abhängen, wie stark die Löhne in Zukunft steigen können und von der Lohnentwicklung hängt es ganz wesentlich ab, wie stark die Renten und andere Sozialleistungen zunehmen werden und sich die Einnahmen des Staates entwickeln.

Wirtschaftspolitische Erwartungen an die neue Regierung

Von der neuen Regierung wäre eine Wirtschaftspolitik zu erwarten, die bei diesen Schwachstellen ansetzt. Um das langfristige Wachstumspotenzial und die Produktivität zu steigern und damit möglichst gut bezahlte Arbeitsplätze langfristig zu sichern, müsste sich die Wirtschaftspolitik insbesondere auf die Investitionen und Innovationen in der Wirtschaft sowie auf die Qualität des Humankapitals konzentrieren. Gerade in einer Zeit, in der sich die Wirtschaft in einer doppelten Transformation hin zur Klimaneutralität und zur weitgehenden Digitalisierung befindet, sind ausreichend hohe Investitionen, wirkungsvolle Innovationen und sehr gut qualifizierte Arbeitskräfte gefragt.

Wie lässt sich das erreichen? In der privaten Wirtschaft hängt es vor allem von den Rahmenbedingungen und der Attraktivität des Standorts Deutschland ab, in welchem Umfang Kapazitäten aufgebaut werden. Dabei spielen Kriterien wie steuerliche Belastungen, Lohnkosten, Energiekosten, Bürokratielasten, zügige Planungs- und Genehmigungsprozesse, Rechtssicherheit, qualifizierte Arbeitskräfte und die Qualität der öffentlichen Infrastruktur in Bezug auf Verkehr, Digitalinfrastruktur sowie Energienetze eine wichtige Rolle. Manches ist sehr gut in diesem breiten Katalog an Rahmenbedingungen in Deutschland, doch in der Gesamtschau ist der hiesige Standort offenbar nicht so attraktiv, wie es für eine ausgewogenere und stärkere Steigerung des Wohlstands erforderlich wäre.

In Bereichen wie dem Bürokratieabbau sind große Fortschritte schwer zu erkennen

Natürlich haben die Koalitionsregierungen in den vergangenen Jahren versucht, in verschiedenen Bereichen Verbesserungen herbeizuführen, etwa indem bei der Bildung und Innovation die Ausstattung der Universitäten verbessert, Forschung und Entwicklung und Start-ups stärker gefördert und Schulen und Kindergärten besser ausgestattet wurden. Auch in die Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur sind zusätzliche Gelder in verschiedenen Bereichen bereitgestellt worden, die aber angesichts langwieriger Planungs- und Genehmigungsprozesse und hoher bürokratischer Erfordernisse oft nur in sehr kleinen Teilen abgeflossen sind. Große Fortschritte sind schwer zu erkennen.

Beim Bürokratieabbau, der immer wieder versprochen wird, gibt es eher Beispiele für Bereiche, in denen der bürokratische Aufwand gesteigert wurde, als solche, wo er deutlich reduziert werden konnte. Die Erfahrung lehrt, dass das Argument der Bürokratielasten für die Wirtschaft schnell Beiseite geschoben wird, wenn „höhere“ politische Ziele erreicht werden sollen, wie etwa bei den Regulierungen zum Mindestlohn, Lieferkettengesetz oder der Finanzmarktregulierung.

Handlungsbedarf gibt es in vielen Einzelbereichen der Wirtschaftspolitik

Eine große Bedeutung für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands und die Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen und Arbeitsplätze liegt in der Energie- und Umweltpolitik. Das große Projekt einer möglichst raschen CO2-Neutralität muss effizienter angegangen werden, als es bisher geschehen ist. Wir haben einen moderaten Fortschritt bei der Reduzierung der CO2-Emissionen erkauft durch sehr hohe Strompreise, gestiegene CO2-Abgaben, einen teuren Kohleausstieg und hohe staatliche Subventionen. Erneuerbare Energie bleibt ungenutzt, weil Energienetze und Speichermedien fehlen. So werden Arbeitsplätze eher gefährdet als neue geschaffen.

Handlungsbedarf gibt es, wie diese Beispiele zeigen, in vielen Einzelbereichen der Wirtschaftspolitik. Für die zukünftige Entwicklung der Einkommen und der Beschäftigung ist darüber hinaus eine übergreifende, ganzheitliche Sichtweise erforderlich. Wenn wirtschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden, die den Unternehmen und Arbeitnehmern zusätzliche Belastungen auferlegen, etwa bei Sozialausgaben oder Energiekosten, dann sollten die Wirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit im Blick bleiben und durch eine Verbesserung von Rahmenbedingungen an anderer Stelle – etwa durch eine erstklassige Infrastruktur oder niedrigere steuerliche Belastungen – in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.

Gefährlich wird es für eine positive Entwicklung des Wohlstandes, wenn sich Belastungen für die Wirtschaft und Arbeitnehmer kumulieren, weil alle Sparten der Politik scheinbar gute Gründe für höhere Abgaben, Steuern oder strengere Vorschriften haben. Deutschland ist über die Jahre und Jahrzehnte in diese Richtung gegangen: Hohen Kosten und Steuerbelastungen stehen immer weniger herausragende Stärken gegenüber, wie einst eine erstklassige Infrastruktur oder hocheffiziente Verwaltungen.

Fazit

Für eine wohlstandsfördernde und investitions- und innovationsintensive Wirtschaftsentwicklung muss die Politik einen verlässlichen und ganzheitlichen Kompass haben. Er sollte signalisieren, dass bei Entscheidungen, die mit höheren Belastungen für Unternehmen und Arbeitnehmer einhergehen, auch Verbesserungen an anderer Stelle oder Entlastungen, gegenüberstehen.

Am Ende kommt es darauf an, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und ihre Investitions- und Innovationsfähigkeit zu stärken und damit die Sozialsysteme und die Finanzierungsmittel des Staates langfristig zu sichern. Das gilt vor allem in einer Zeit mehrfacher „Mega“-Herausforderungen, wie die notwendige Dekarbonisierung oder Digitalisierung der Wirtschaft. Diese Aufgaben sind unter der Bedingung eines zunehmend knapper werdenden Erwerbspersonenpotenzials und einer alternden Gesellschaft umso schwerer zu bewältigen. Es bleibt zu hoffen, dass sie nach dem Wahlkampf in das Zentrum der Aufmerksamkeit der neuen Regierung rücken.

Eine kleine Wirtschaftsbilanz der Ära Merkel

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Dr. Michael Heise
Chefökonom
HQ Trust
Dr. Michael Heise ist Chefökonom von HQ Trust. Er zählt zu den bekanntesten Volkswirten des deutschsprachigen Raumes. Vor seinem Start bei HQ Trust war er Leiter des Group Centers Economic Research der Allianz SE sowie Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dr. Michael Heise lehrt als Honorarprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied in diversen hochrangigen Ausschüssen und des Planungsstabes des House of Finance.
Inhaltsverzeichnis
  1. Das gesamtwirtschaftliche Wachstum lag im Schnitt nur bei 1,1 Prozent
  2. Die deutsche Wirtschaft ist in erheblichem Maße vom Export abhängig
  3. Wirtschaftspolitische Erwartungen an die neue Regierung
  4. In Bereichen wie dem Bürokratieabbau sind große Fortschritte schwer zu erkennen
  5. Handlungsbedarf gibt es in vielen Einzelbereichen der Wirtschaftspolitik
  6. Fazit