Totgesagte leben bekanntlich länger: In Deutschland ist die Inflation quicklebendig und dürfte zum Jahresende rund 5 % betragen. Dr. Michael Heise über die Ursachen, die Perspektiven für 2022 – und die wirtschaftspolitischen Implikationen des Anstiegs.

In den Monaten nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie war es wohl von kaum jemanden erwartet worden, dass die schon totgesagte Inflation in Deutschland bereits in 2021 wieder quicklebendig sein würde. Deutsche Verbraucher werden am Jahresende eine Teuerung um rund 5% im Vergleich zum Dezember 2020 spüren. Im Jahresdurchschnitt 2021 wird der nationale Verbraucherpreisindex (VPI) um etwas mehr als 3% gegenüber dem Vorjahr steigen.

Prägend für die Inflationsentwicklung im bisherigen Jahresverlauf war zum einen die Wiederanhebung der Mehrwertsteuersätze im Januar, die zusammen mit der Einführung der CO2-Abgabe auf fossile Brennstoffe die Teuerung wieder in den positiven Bereich brachte (siehe Schaubild). Im weiteren Verlauf des Jahres hat sich dann der Preisauftrieb bei Energieprodukten erheblich verstärkt: Die Rohölpreisnotierungen hatten sich im Oktober binnen Jahresfrist verdoppelt.

Die Produktion kann nicht mit der Warennachfrage mithalten

Zum anderen kam es zu starken Preissteigerungen durch Lieferengpässe und Knappheiten bei vielen Vorprodukten, nichtenergetischen Rohstoffen und Transportkapazitäten. Die Produktion hat in den vergangenen Quartalen, auch aufgrund Corona-bedingter Behinderungen, nicht mit dem teilweise stürmischen Wachstum der Warennachfrage mithalten können. Die Engpässe bei vielen Vorleistungsgütern haben die Einkaufspreise der Unternehmen kräftig steigen lassen und führen seit Monaten auch zu hohen Absatzpreisen der Endprodukte. Der Kostenschub kommt so allmählich auf der Verbraucherebene an.

Im Oktober lag der Verbraucherpreisindex um 4,5% über dem Niveau des entsprechenden Vorjahresmonats (Schaubild). Ein wesentlicher Treiber waren die Preise im Teilindex Energie, der etwas mehr als 10% des VPI-Warenkorbs ausmacht und im Oktober um 18,6% höher stand als vor einem Jahr. Diese Entwicklung war getrieben von dem Preisanstieg bei Kraftstoffen und Heizöl und spiegelte im Wesentlichen die steigenden Ölpreisnotierungen wider (Schaubild). Bei den Gaspreisen werden die höheren Bezugspreise erst mit Verzögerung deutlich werden.

Der ohne Energie berechnete Verbraucherpreisindex lag im Oktober um 3,1% über Vorjahr. Weitere Steigerungen sind jedoch bis Jahresende zu erwarten, da sich derzeit noch keine Entspannung bei den Industriegüterpreisen abzeichnet. Nach Angaben des ifo Instituts klagten im Oktober immerhin noch 70,4 Prozent der Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes über Engpässe und Probleme bei der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen.

Die Verkaufspreiserwartungen erreichen neue Höchststände

Die Material- und Lieferengpässe haben sich bereits seit geraumer Zeit in sehr deutlichen Anstiegen der Import- und Erzeugerpreise bemerkbar gemacht. Und der Preisdruck bleibt nicht nur im Verarbeitenden Gewerbe hoch (Schaublid). So wurden in der in der monatlichen Unternehmensbefragung der EU-Kommission bei der Teilfrage nach den Verkaufspreiserwartungen in allen relevanten Wirtschaftssektoren im Oktober neue Höchststände erreicht – bei Dienstleistungen nach einer tendenziellen Stabilisierung im dritten Quartal. Die gravierenden und globalen Beschaffungsprobleme werden für die Verbraucher gerade um Weihnachten in Form von höheren Preisen und langen Lieferzeiten sehr deutlich spürbar bleiben.

Ausblick auf das Jahr 2022

Auch beim Übergang in das Jahr 2022 dürfte das Preisklima sehr angespannt bleiben. Der sogenannte Inflationssockel für das kommende Jahr dürfte bei knapp 1,7% liegen. Das heißt, selbst wenn sich die Preise von Januar bis Dezember nächsten Jahres auf einer waagerechten Linie bewegen würden, also völlig konstant blieben, läge die jahresdurchschnittliche Inflation bei 1,7 %.

Eine Prognose der Entwicklung im kommenden Jahr ist mit großen Unsicherheiten behaftet. Plausibel erscheint es, dass die Preise in den ersten drei Monaten noch recht deutlich steigen, da die Kostensteigerungen der letzten Monate in die Preise überwälzt werden (unsere Annahme: saisonbereinigt 0,3 % Anstieg pro Monat). Auch die nächste Erhöhung der CO2-Abgabe um 5 Euro auf dann 30 Euro/Tonne CO2 und steigende Gaspreise in privaten Verbrauchskontrakten werden dazu beitragen. Unterstellt man ab dem zweiten Quartal nur noch sehr geringe monatliche Steigerungen (von 0,1 Prozent), weil sich Öl- und Rohstoffpreise stabilisieren, wird die Inflation in Deutschland im Jahresdurchschnitt dann rund 2,9 % betragen und am Jahresende in Richtung 2 % tendieren.

Dass die Inflationsrate zu Jahresbeginn 2022 abfällt, hängt damit zusammen, dass der Preisvergleich zum Vorjahr dann wieder auf einheitlichen Mehrwertsteuersätzen beruht. Dieser Effekt beläuft sich auf gut 1 Prozentpunkt. In den Inflationsrate des noch laufenden Halbjahres werden (wegen der Absenkung im zweiten Halbjahr 2020) Preise auf der Grundlage verschiedener Steuersätze gegenübergestellt.

Verbraucher müssen sich auf steigende Gaspreise einstellen

Große Unsicherheit besteht insbesondere im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Energiepreise, die in den letzten Monaten extrem stark gestiegen sind. Zwar kam es nach der Anweisung des russischen Präsidenten, die Gaslieferungen nach Deutschland und Österreich zu erhöhen zu einer gewissen Korrektur der Gaspreise. Aber sie bewegen sich immer noch in einer Spanne von 60-80 EUR pro Megawattstunde und damit massiv über dem Durchschnittswert von etwa 22 EUR/MWh seit dem Jahr 2007. Nach den Notierungen für zukünftige Lieferungen könnte es im Verlauf des kommenden Jahres zu einer Entspannung kommen, sicher ist das freilich nicht. Da viele Versorger längerfristige Verträge mit ihren Lieferanten haben, werden die Preissprünge nicht unmittelbar und vollumfänglich auf die privaten Haushalte durchschlagen. Dennoch müssen sich die Verbraucher auf steigende Gaspreise einstellen.

Der Ölmarkt ist seit Sommer vergangenen Jahres durch einen Nachfrageüberhang gekennzeichnet. Die Mitglieder der OPEC+ halten bislang an ihrem Fahrplan einer nur graduellen und damit offenbar zu geringen Ausweitung der Ölförderung fest. Ein baldiger deutlicher Rückgang der Preise ist daher wenig wahrscheinlich. Aber auch das weitere Steigerungspotential sollte begrenzt sein, da bei den aktuellen Preisen insbesondere in den USA zusätzliches Angebot durch die Nutzung von Fracking-Anlagen an den Markt kommt.

Fazit und wirtschaftspolitische Implikationen

Die hohen Preisniveausteigerungen bedeuten für die privaten Haushalte einen Verlust an Kaufkraft, der für sich genommen das Wachstum des realen privaten Konsums dämpfen wird. Andere Faktoren dürften in 2022 allerdings für einen steigenden realen Konsum sorgen. Es ist mit deutlich höheren Lohnabschlüssen zu rechnen, die Beschäftigungslage dürfte sich angesichts erheblicher Knappheiten am Arbeitsmarkt weiter verbessern.

Zudem haben die Haushalte in den letzten anderthalb Jahren in großem Umfang zusätzlich Ersparnisse aufgebaut, die sie zumindest zu einem Teil zur Finanzierung von zusätzlichem Konsum nutzen werden. Es ist daher nicht zu erwarten, dass die höhere Inflation die Konjunktur schon bald abwürgen wird und wir in eine Stagflation hineingeraten. Für die Europäische Zentralbank ergibt sich daraus unseres Erachtens die Notwendigkeit aus der bisherigen Krisenpolitik konsequent auszusteigen und den steigenden Inflationserwartungen etwas entgegenzusetzen.

In der Wirtschaftspolitik werden zudem Möglichkeiten erörtert, die hohen Zusatzkosten beim Heizen und bei der Mobilität insbesondere für untere und mittlere Einkommensschichten zu kompensieren. Andere Länder haben bereits Gutscheine oder temporäre Steuerentlastungen beschlossen, die auch in Deutschland sinnvoll erscheinen. Neben temporären kompensatorischen Maßnahmen der Regierung sollte auch eine dauerhafte Korrektur von Freibeträgen im Tarifverlauf der Einkommensteuer umgesetzt werden. Die Inflation führt zu höheren Steuerbelastungen – direkt im Rahmen der Mehrwertsteuer und mittelfristig, wenn die Einkommen nachziehen auch in der Einkommensteuer. Diese ist progressiv gestaltet und entzieht bei inflationär bedingten Einkommenssteigerungen immer mehr Einkommen, obwohl sich die reale Situation der Wirtschaftssubjekte nicht verbessert, sondern vielfach durch Kaufkraftverluste sogar verschlechtert hat. Die Diskussion um die sogenannte kalte Progression war lange Zeit eher ein Randthema; im Zuge der aktuellen Inflationsentwicklung sollte sie allerdings mit Nachdruck angegangen werden.+

Das könnte Sie auch interessieren:

Bitte beachten Sie:
Die Vermögensanlage an den Kapitalmärkten ist mit Risiken verbunden und kann im Extremfall zum Verlust des gesamten eingesetzten Kapitals führen. Die Wertentwicklung in der Vergangenheit ist kein Indikator für die Wertentwicklung in der Zukunft. Auch Prognosen haben keine verlässliche Aussagekraft für künftige Wertentwicklungen. Die Darstellung ist keine Anlage-, Rechts- und/oder Steuerberatung. Alle Inhalte auf unserer Webseite dienen lediglich der Information.

michae_heise_600_600
Dr. Michael Heise
Chefökonom
HQ Trust
Dr. Michael Heise ist Chefökonom von HQ Trust. Er zählt zu den bekanntesten Volkswirten des deutschsprachigen Raumes. Vor seinem Start bei HQ Trust war er Leiter des Group Centers Economic Research der Allianz SE sowie Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dr. Michael Heise lehrt als Honorarprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied in diversen hochrangigen Ausschüssen und des Planungsstabes des House of Finance.
Inhaltsverzeichnis
  1. Die Produktion kann nicht mit der Warennachfrage mithalten
  2. Ausblick auf das Jahr 2022
  3. Verbraucher müssen sich auf steigende Gaspreise einstellen
  4. Fazit und wirtschaftspolitische Implikationen