Selbst für Aktienoptimisten hatte die Börsenentwicklung in den vergangenen Monaten einige Überraschungen parat. Waren die Märkte zu optimistisch? Dr. Michael Heise über Konjunkturprognosen, Rettungsprogramme und die Risiken der Pandemie.

Die Bewegung dürfte viele Anleger überrascht haben: Bereits im April und Mai haben die Kurse trotz des beispiellosen wirtschaftlichen Einbruchs eine kräftige Erholung hingelegt und einen großen Teil der Verluste aus dem März wieder wettgemacht. Schon damals war von einer Entkopplung von Realwirtschaft und Finanzmärkten die Rede. Doch seit dem Ende der Sommerferien haben die Bösen weiter zulegen können, obwohl die Infektionszahlen weltweit kräftig ansteigen und vielerorts neue Einschränkungen und Auflagen zur Bekämpfung der Pandemie eingeführt werden.

Ist das Überoptimismus der Märkte oder rechtfertigen die wahrscheinlichen Szenarien der Pandemie und der wirtschaftlichen Entwicklung die hohen Bewertungen? Eine verhältnismäßig treffsichere Voraussicht kann man den Märkten in den vergangenen Monaten jedenfalls nicht absprechen. Während die große Mehrheit von Marktbeobachtern und Politikern die Chancen für eine V-förmige Erholung weit von sich wiesen, haben die Finanzmärkte genau dieses Szenario „eingepreist“. Und tatsächlich folgte dann auf den tiefen wirtschaftlichen Einbruch zu Beginn des zweiten Quartals eine rasche Erholung im dritten Quartal.

Die Volkswirtschaften erwachen aus dem künstlichen Koma

Unabsehbar war diese Erholung nicht, denn nach der erzwungenen Konsumzurückhaltung im zweiten Quartal war mit Nachholeffekten insbesondere bei dauerhaften Konsumgütern zu rechnen. Man hatte die Volkswirtschaften in eine Art künstliches Koma gelegt, aus dem Sie allmählich erwachten. Zudem hatte es eine entschiedene Reaktion der Geld- und Finanzpolitik gegeben, die mit großen Programmen den wirtschaftlichen Schaden des Lockdowns zu minimieren versuchte. Der Weltwährungsfonds schätzt, dass sich die Rettungs- und Konjunkturprogramme weltweit auf mehr als eine Trillion US-Dollar summieren.

Die expansive Finanzpolitik wird durch eine nicht minder expansive Geldpolitik flankiert, die weiterhin sehr niedrige Zinsen verspricht und die über ihre Anleihekaufprogramm einen großen Teil der zusätzlichen Staatsschulden in die Notenbankbilanzen nimmt und damit Zinssteigerungen verhindert.

Unterschätzen die Märkte die aktuelle Infektionswelle?

Dennoch bleibt die Frage, ob die Märkte nicht die Auswirkungen der derzeitigen Infektionswelle unterschätzen, die mit mehr oder weniger großer Intensität alle westlichen Industrieländer erfasst hat. Eine Antwort auf diese Frage hängt wesentlich davon ab, wie die Politik auf die Beschleunigung der Infektionszahlen reagieren wird. Kommt es zu weitreichenden Beschränkungen des Wirtschaftslebens werden sich die optimistischen Konjunkturprognosen für 2021 und die derzeitigen Bewertungen an den Aktienmärkten nicht halten lassen.

Auf den ersten Blick sprechen die Zahlen vielerorts für einen abermaligen Lockdown. Weltweit werden derzeit täglich mehr als 300.000 Menschen neu infiziert (alle Zahlen als 7 Tage-Durchschnitt berechnet) verglichen zu lediglich rund 74 Tausend am Ende der ersten Aprilwoche. Die Zahl an aktiv Infizierten ist von rund 700.000 Fällen Anfang April auf sieben Millionen gestiegen. Im Kontrast zu dieser Entwicklung sind die Todesfallzahlen jedoch absolut und vor allem in Relation zu den Infektionen gesunken. Waren Anfang April täglich rund 6100 Todesfälle zu beklagen, sind es in der vergangenen Woche 5285 gewesen. Die verminderte Sterblichkeit zeigt sich auch in den Daten des deutschen RKI. Die wöchentlichen Todesfälle haben sich in Relation zu den Neuinfektionen von zeitweise über sechs Prozent im April erheblich vermindert. Seit Mitte August liegt diese Relation unter 0,5 %, obwohl das Durchschnittsalter der Infizierten zuletzt wieder leicht gestiegen ist.

Vorsicht bei der Interpretation von Erkranktenzahlen

Bei der Interpretation dieser Zahlen ist aus verschiedenen Gründen Vorsicht angebracht. Schwere Infektionsverläufe entwickeln sich über längere Zeit. Zudem ist nicht bekannt, wie viele Menschen zu Beginn der Pandemie tatsächlich infiziert waren. Die damals sehr hohe Sterblichkeitsrate könnte darauf zurückzuführen sein, dass es eine sehr hohe Dunkelziffer an Erkrankten gab, die aufgrund mangelnder Tests nicht erkannt wurden. Dass es statistische Unsicherheiten gibt, spricht aber nicht dagegen, dass die Sterblichkeit durch bessere Behandlungsmethoden, erste Medikamente bei schweren Verläufen und wohl auch durch eine geringere Schwere der Erkrankungen durch Vorsichtsmaßnahmen wie Abstandhalten und Maskentragen zurückgegangen ist. All dies erklärt die angesichts des Infektionsgeschehens verhältnismäßig niedrige Belastung der intensivmedizinischen Kapazitäten.

Da sich noch kein wirksamer Impfstoff gegen das Virus abzeichnet, ist es für die wirtschaftliche Entwicklung von zentraler Bedeutung, welchen Weg die Politik bei ihren anti-corona Maßnahmen wählt. Die Zahlen zur Sterblichkeit legen es nahe, es die auf die Pandemie abzielenden Eingriffe des Staates auf Abstands-, Hygiene- und Versammlungsregeln abzustellen und, wo sinnvoll, auch Tests zu verlangen und anzubieten.

Die Risiken der Pandemie sollten nicht ausgeblendet werden

Sollte es dagegen bei uns oder in wichtigen Partnerländern zu einer erneuten Stilllegung des öffentlichen Lebens und zu Geschäftsschließungen kommen, etwa um die Zahl der Neuinfektionen wieder auf den Stand vom Sommer zu drücken, werden deutliche Spuren in der wirtschaftlichen Entwicklung und an den Finanzmärkten sichtbar werden. Solche Szenarien werden derzeit nicht in den Vordergrund gerückt und man darf den Akteuren an den Finanzmärkten in dieser Hinsicht durchaus Optimismus bescheinigen. Es bleibt zu hoffen, dass sie auch in dieser Frage richtig liegen und die Politik bei ihrer Pandemiebekämpfung Maß und Mitte hält.

Die Risiken der Pandemie sollten aber nicht ausgeblendet werden. Hinzu kommen (teilweise auch mit dem Virus zusammenhängende) Unsicherheiten rund um die Wahl in den USA, die im schlimmsten Fall zu einem knappen, umstrittenen Ergebnis und zu unklaren Verhältnissen führt. Insofern wäre es nicht überraschend, wenn der Optimismus der Märkte in den nächsten Wochen mehreren Tests unterworfen wird.

Anleger sollten auf entsprechende Marktschwankungen vorbereitet sein. Wer wie ich langfristig positive Aktienmarktperspektiven sieht, kann potentielle kurzfristige Kurskorrekturen als Chance sehen und Positionen aufbauen.

Zu HQ Trust

HQ Trust ist das Multi Family Office der Familie Harald Quandt. Wir kümmern uns um das Vermögen von Privatpersonen, Familien, Stiftungen und institutionellen Anlegern. Unser Team bietet Dienstleistungen in den Bereichen Family Office, Private Vermögensverwaltung, Alternative Investments und Beratungsdienstleistungen für institutionelle Anleger.

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Dr. Michael Heise
Chefökonom
HQ Trust
Dr. Michael Heise ist Chefökonom von HQ Trust. Er zählt zu den bekanntesten Volkswirten des deutschsprachigen Raumes. Vor seinem Start bei HQ Trust war er Leiter des Group Centers Economic Research der Allianz SE sowie Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Dr. Michael Heise lehrt als Honorarprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied in diversen hochrangigen Ausschüssen und des Planungsstabes des House of Finance.
Inhaltsverzeichnis
  1. Die Volkswirtschaften erwachen aus dem künstlichen Koma
  2. Unterschätzen die Märkte die aktuelle Infektionswelle?
  3. Vorsicht bei der Interpretation von Erkranktenzahlen
  4. Die Risiken der Pandemie sollten nicht ausgeblendet werden